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ohne es selbst zu wissen, dass Sie die Hoffnung in sich nähren, thatsächlich die Stelle der Mutter einzunehmen, und dazu kommt noch, dass Sie so empfindlich gegen die Dienstleute geworden sind, mit denen Sie Jahre lang friedlich zusammengelebt haben. Sie fürchten, dass diese etwas von Ihrer Hoffnung merken und Sie darüber verspotten werden.“

Ihre Antwort war in ihrer wortkargen Weise: Ja, ich glaube, es ist so. – Wenn Sie aber wussten, dass Sie den Director lieben, warum haben Sie es mir nicht gesagt? – Ich wusste es ja nicht oder besser, ich wollte es nicht wissen, wollte es mir aus dem Kopf schlagen, nie mehr daran denken; ich glaube, es ist mir auch in der letzten Zeit gelungen.[1]

Warum wollten Sie sich diese Neigung nicht eingestehen? Schämten Sie sich dessen, dass Sie einen Mann lieben sollten? – O, nein, ich bin nicht unverständig prüde; für Empfindungen ist man ja überhaupt nicht verantwortlich. Es war mir nur darum peinlich, weil es der Herr ist, in dessen Dienst ich stehe, in dessen Haus ich lebe, gegen den ich nicht wie gegen einen andern die volle Unabhängigkeit in mir fühle. Und weil ich ein armes Mädchen und er ein reicher Mann aus vornehmer Familie ist; man würde mich ja auslachen, wenn man etwas davon ahnte.

Ich finde nun keinen Widerstand, die Entstehung dieser Neigung zu beleuchten. Sie erzählt, sie habe die ersten Jahre arglos in dem Hause gelebt und ihre Pflichten erfüllt, ohne auf unerfüllbare Wünsche zu kommen. Einmal aber begann der ernste, überbeschäftigte, sonst immer gegen sie reservirte Herr ein Gespräch mit ihr über die


  1. Eine andere und bessere Schilderung des eigenthümlichen Zustandes, in dem man etwas weiss und gleichzeitig nicht weiss, konnte ich nie erzielen. Man kann das offenbar nur verstehen, wenn man sich selbst in solch einem Zustand befunden hat. Ich verfüge über eine sehr auffällige Erinnerung dieser Art, die mir lebhaft vor Augen steht. Wenn ich mich bemühe, mich zu erinnern, was damals in mir vorging, so ist meine Ausbeute recht armselig. Ich sah damals etwas, was mir gar nicht in die Erwartung passte, und liess mich durch das Gesehene nicht im Mindesten in meiner bestimmten Absicht beirren, während doch diese Wahrnehmung meine Absicht hätte aufheben sollen. Ich wurde mir des Widerspruches nicht bewusst, und ebensowenig merkte ich etwas von dem Affect der Abstossung, der doch unzweifelhaft Schuld daran war, dass jene Wahrnehmung zu gar keiner psychischen Geltung gelangte. Ich war mit jener Blindheit bei sehenden Augen geschlagen, die man an Müttern gegen ihre Töchter, an Männern gegen ihre Ehefrauen, an Herrschern gegen ihre Günstlinge so sehr bewundert.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_100.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)