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besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der Arzt ihr diese Verordnung gab: Das wird gewiss auch nichts nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineralwässer ungezählte Male wiederholt.

Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht 8 Tage lang aus, sondern ass und trank schon am nächsten Tag ohne alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Brief: „Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem Wasser habe ich schon 40 Flaschen getrunken. Glauben Sie, soll ich damit fortfahren?“

Ich sah Frau v. N. . im Frühjahr des nächsten Jahres auf ihrem Gute bei D . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen sie während der „Stürme im Kopf“ zu rufen pflegte, trat um diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Missverhältniss zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmässig und selbst gewaltthätig gegen die Mutter. Ich besass noch das Vertrauen der letzteren und wurde hinbeschieden, um mein Urtheil über den Zustand des jungen Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorgegangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die Thatsache in Anschlag zu bringen, dass sämmtliche Halbgeschwister der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . aus erster Ehe) an Paranoia zu Grunde gegangen waren. In der Familie der Mutter fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maass von neuropathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandtenkreis kein Mitglied in endgiltige Psychose verfallen war. Frau v. N. ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rückhalt ertheilte, benahm sich dabei ruhig und verständnissvoll. Sie war stark geworden, sah blühend aus, die ¾ Jahre seit Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohlbefinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen. Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die Dame zu klagen hatte; sie war also mit der „profession“ einigermaassen ausgesöhnt.

Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger geworden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_070.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)