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14. Mai. Sie ist wohl und heiter, hat bis halb 8 Uhr früh geschlafen, klagt nur über etwas Schmerzen im Radialisgebiet der Hand, Kopf- und Gesichtsschmerzen. Das Aussprechen vor der Hypnose gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie hat heute fast nichts Grässliches vorzubringen. Sie beklagt sich über Schmerz und Gefühllosigkeit im rechten Bein, erzählt, dass sie 1871 eine Unterleibsentzündung durchgemacht, dann, kaum erholt, ihren kranken Bruder gepflegt und dabei die Schmerzen bekommen, die selbst zeitweise eine Lähmung des rechten Fusses herbeiführten.

In der Hypnose frage ich, ob es ihr jetzt schon möglich sein werde, sich unter Menschen zu bewegen, oder ob die Furcht noch überwiege. Sie meint, es sei ihr noch unangenehm, wenn jemand hinter ihr oder knapp neben ihr steht, erzählt in diesem Zusammenhange noch Fälle von unangenehmen Ueberraschungen durch plötzlich auftauchende Personen. So seien einmal, als sie auf Rügen einen Spaziergang mit ihren Töchtern gemacht, zwei verdächtig aussehende Individuen hinter einem Gebüsche hervorgekommen und hätten sie insultirt. In Abbazia sei auf einem abendlichen Spaziergange plötzlich ein Bettler hinter einem Stein hervorgetreten, der dann vor ihr niedergekniet. Es soll ein harmloser Wahnsinniger gewesen sein; ferner erzählt sie von einem nächtlichen Einbruch in ihrem isolirt stehenden Schloss, der sie sehr erschreckt hat.

Es ist aber leicht zu merken, dass diese Furcht vor Menschen wesentlich auf die Verfolgungen zurückgeht, denen sie nach dem Tode ihres Mannes ausgesetzt war.[1]

Abends. Anscheinend sehr heiter, empfängt sie mich doch mit dem Ausrufe: „Ich sterbe vor Angst, oh, ich kann es Ihnen fast nicht sagen, ich hasse mich.“ Ich erfahre endlich, dass Dr. Breuer sie besucht hat, und dass sie bei seinem Erscheinen zusammengefahren ist. Als er es bemerkte, versicherte sie ihm: Nur diesesmal, und es that ihr in meinem Interesse so sehr leid, dass sie diesen Rest von früherer Schreckhaftigkeit noch verrathen musste! Ich hatte überhaupt in diesen Tagen Gelegenheit gehabt, zu bemerken, wie herbe sie gegen sich ist, wie leicht bereit, sich aus den kleinsten Nachlässigkeiten, – wenn die Tücher für die Massage nicht am selben Platze liegen, wenn die Zeitung nicht in die Augen springend vorbereitet ist, die ich lesen


  1. Ich war damals geneigt, für alle Symptome bei einer Hysterie eine psychische Herkunft anzunehmen. Heute würde ich die Angstneigung bei dieser abstinent lebenden Frau neurotisch erklären. (Angstneurose.)
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_053.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)