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Der Fremde blickt auf die Schar der Kirchenbänke, die, weihevoll zum Altar hingebeugt, wie auf ein kommendes Wunder warten.

Er ist einer jener Lebendigen, die das Leid überwunden und mit anderen Augen tief hineinsehen in eine andere Welt. Er fühlt den geheimnisvollen Atem der Dinge: Das verborgene lautlose Leben der Dämmerung.

Die verleugneten, heimlichen Gedanken, die hier geboren wurden, ziehen unstet – suchend – durch den Raum. – Wesen ohne Blut, ohne Freude und Weh – wachsbleich, wie die kranken Gewächse der Dunkelheit.

Verschwiegen schwingen die roten Ampeln – feierlich – an langen geduldigen Stricken; – der Luftzug bewegt sie – von den Flügeln der goldenen Erzengel.

– Da. – – Ein leises Scharren unter den Bänken. – Es huscht zum Betstuhl und versteckt sich. –

Jetzt kommt es um die Säule geschlichen:

Eine bläuliche Menschenhand!

Auf flinken Fingern läuft sie am Boden hin: eine gespenstische Spinne! – horcht. – Klettert eine Eisenstange empor und verschwindet im Opferstock. – –

Die silbernen Münzen darin klirren leise. –

Träumend ist ihr der Einsame mit dem Auge gefolgt, und seine Blicke fallen auf einen alten Mann, der im Schatten eines alten Pfeilers steht. – Die beiden sehen sich ernst an.

„Es gibt viel gierige Hände hier,“ flüsterte der Alte.

Der Einsame nickt.

Aus dem nächtigen Hintergrunde ziehen trübe Gestalten heran. Langsam – sie bewegen sich kaum.

Betschnecken! –

Menschenbüsten – Frauenköpfe mit schleiernden Umrissen auf kalten, schlüpfrigen Schneckenleibern – mit Kopftüchern und schwarzen katholischen Augen – saugen sie sich lautlos über die kalten Fliesen.

„Sie leben von den leeren Gebeten,“ sagt der Alte.

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Gustav Meyrink: Orchideen. München o. J., Seite. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Orchideen_Meyrink.djvu/037&oldid=- (Version vom 31.7.2018)