wem ich auch in die Nähe trat, – schon vor meiner Person zog man sich scheu zurück. Entrüstet blitzte mich Frau Schwabach mit ihren klugen dunkeln Augen an: „Und Sie sind eine Ethikerin, die das allen Gemeinsame pflegen und betonen soll!“ Ich fand in der großen Versammlung nur zwei Stimmen, die sich mir anschlossen, unter ihnen die Frau Vanselows. „Sie schicken das an die Presse? – Famos! Ein empfindlicher Schlag für Helma Kurz!“ sagte sie.
„Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden,“ tröstete mich Georg, als ich verstimmt und enttäuscht nach Hause kam. Es dauerte lange, ehe der heilende Trank seines Menschenglaubens mir die tiefe Verbitterung aus dem Herzen trieb. Aber den letzten Keim der Krankheit tötete er nicht. Was ich in unserer Zeitschrift und in der „Frauenfrage“ veröffentlichte, wurde immer schärfer im Ton. Die Menschen, denen ich begegnete, die Bücher, die ich las, die dramatischen Werke, die ich sah, – ich beurteilte sie alle nur von dem einen Gesichtspunkt aus: ihrer Stellung zur sozialen Frage, zum Sozialismus.
Aus der Dichtung und aus der bildenden Kunst verschwand damals allmählich die Elendsschilderung, die in Hauptmanns Webern noch die Peitsche gewesen war, die rücksichtslos blutige Striemen zog, und in seinem „Hannele“ das Bettlerkind schon in Märchenkleidern zeigte. Künstlerische Begeisterung entzündet sich an jungen Ideen, solange sie flackernde Flammen sind und die Gefahr des Erlöschens ihnen phantastisch-spannenden
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/636&oldid=- (Version vom 31.7.2018)