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Noch am Abend in Leipzig zeigte er mir den Antrag, den er stellen wollte: „Die Ethische Gesellschaft nimmt mit Genugtuung davon Kenntnis, daß der Kongreß für Hygiene sich für den Achtstundentag ausgesprochen hat, und erklärt, von ethischen Gesichtspunkten ausgehend, sich dieser Forderung anzuschließen.“

„Das wird uns vorwärts bringen!“ sagte ich und gab ihm freudig meine Unterschrift.

Er verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln: „Vorwärts bringen?! Gewiß, die reinliche Scheidung der Geister ist allemal ein Fortschritt!“

Zwei Tage später saßen wir einander an demselben Tisch gegenüber: seine Augenwinkel zuckten nervös, unruhig trommelten seine Finger auf der Tischplatte, während ich, totmüde von den langen Verhandlungen, gedankenlos in einer Zeitung blätterte.

„Was sagen Sie nun?!“ unterbrach er unser langes Schweigen. „Ich – ich bin noch ein Optimist gewesen! Eine Ethische Gesellschaft, die geschlossen gegen uns beide den Achtstundentag ablehnt! – Weil er ein ‚Schlagwort‘ ist! – Weil seine Annahme den Verein sprengen würde! – Weil es ‚unethisch‘ ist, andere zu ‚verletzen!‘ – Was meinen Sie: ist es vom Standpunkt unserer Privatethik aus zu rechtfertigen, wenn wir immer noch nichts als heimliche Sozis sind?!“

Ich senkte den Kopf tiefer. Ich dachte an Georg, an seine strahlenden, hoffnungsvollen Kinderaugen, an seine zarten, schmalen Hände, seinen armen gelähmten Körper. „Nur eine Aufgabe kann ich erfüllen,“ hatte er einmal gesagt, „von meinem Katheder aus die Jugend ‚vergiften‘!“ Und dann fiel mein Blick auf den breiten

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/626&oldid=- (Version vom 31.7.2018)