einem freisinnigen Abgeordneten ihr eine Art Respektstellung geschaffen hatte.
„Das ist im Rahmen meines Vortrags einfach unmöglich;“ widersprach ich. „Die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts eintritt.“
„Schlimm genug! Wir werden darum immer verdächtig erscheinen, wenn wir ihre Wünsche zu den unseren machen, – das habe ich ja schon oft betont, ohne Gehör zu finden.“
Ich hielt hartnäckig an dem beanstandeten Satze fest und war nahe daran, den ganzen Vortrag zurückzuziehen. Aber mußte ich nicht Konzessionen machen, um nur überhaupt etwas durchzusetzen?! Ich wurde wieder überstimmt, – Frau Vanselow allein enthielt sich mit einem bedauernden Achselzucken der Abstimmung.
In dem großen Saal des Konzerthauses in der Leipzigerstraße fand an einem Sonntag Vormittag die Versammlung statt. Bis in die Gallerien hinauf drängten sich die Menschen. An langen Tischen unter der Rednertribüne saßen mit blasierten Gesichtern und gespitzten Bleistiften die Journalisten. Mit triumphierendem Lächeln, den Kopf von einem Spitzenschleier malerisch bedeckt, die ebenmäßige Gestalt eng von schwarzer Seide umschlossen, stand Frau Vanselow neben mir. „Helma Kurz, – sehen Sie nur! Ganz grün ist sie vor Ärger –“ hatte sie mir noch hastig zugezischelt. Ein Polizeileutnant saß an meiner anderen Seite, ein weißes Papier breit vor sich auf dem Tisch, an dessen Kopf zunächst nichts weiter als mein Name stand.
Und dann sprach ich, und wieder trug mich die
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/622&oldid=- (Version vom 31.7.2018)