erfreut; hier bot sich mir eine neue Gelegenheit, um zu wirken. „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen,“ antwortete ich, „aber ehe ich mich Ihnen verpflichte, sollten Sie erst abwarten, was ich leisten kann.“
Mit steigendem Eifer arbeitete ich an meinem Vortrag. Ich lernte ihn Satz für Satz auswendig. Am Abend vor der Versammlung war „Generalprobe“ vor Georg als meinem einzigen Zuhörer. „Wenn ich mich schon vor dir so fürchte, wie soll das bloß morgen werden!“ sagte ich, und das Papier zitterte in meinen Händen. Da klingelte es, – ich hörte eine Stimme, die mir in diesem Augenblick gespannter Erregung die Tränen in die Augen trieb: mein Vater! Ich hatte seine Rückkehr noch nicht erwartet und nun stand er vor mir – sehr gealtert, ganz blaß, die Hände schwer auf den Stock stützend –, wie an den Boden gewurzelt.
„Papa!“
„Mein liebes Herzenskind!“ Ich lag in seinen Armen. Und dann nahm er meinen Kopf zwischen seine Hände und sah mich an. „Wie rosig du aussiehst – und wie – wie glücklich!“ Mit einer raschen Bewegung näherte er sich Georg und reichte ihm die Hand. „Verzeiht mir, Kinder, verzeiht! – Und du, hab Dank, tausend Dank, daß ich meine Alix so wiederfinde!“ Er konnte sich nicht trennen; jedes Bild an der Wand, jeder Zimmerwinkel mußte einmal und noch einmal besichtigt werden. „Wie hübsch und friedlich es bei Euch ist!“ Er legte mit einem Seufzer die Hand über die Augen. „Da werdet Ihr mich so leicht nicht mehr los werden!“
Von allem erzählte er, was ihn in den Monaten seit unserer Trennung beschäftigt hatte, und vergaß in der
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 609. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/611&oldid=- (Version vom 31.7.2018)