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zwischen Sozialisten und Antisozialisten trotz aller Aufrechterhaltung ethischer Formen immer deutlicher hervor. Ich beteiligte mich bald genug nur aus Rücksicht auf Georgs Wünsche an den Vereinsversammlungen.

„Wir müssen uns vor dem zweisamen Egoismus hüten, Kindchen,“ mahnte er oft; „das hieße den Frieden und die geistige Eintracht unseres persönlichen Lebens höher stellen, als unsere Sache.“

Und so mußt ich denn so manchen Abend opfern und kam doch fast immer mit einem Gefühl peinlicher Leere nach Hause. Gearbeitet wurde, – zweifellos. Da war eine kluge, warmherzige Frau, die eine Auskunftsstelle für Bedürftige und Verlassene gegründet hatte und der Sorge für die vielen Fragenden all ihre Zeit opferte; da war eine andere, die voll tiefen Erbarmens Tag aus, Tag ein denen nachging, die eigene Leidenschaft und männliche Lüsternheit in des Lebens tiefste Abgründe riß; eine Gruppe gab es, die zu einer künftigen Volksbibliothek die Bücher Stück für Stück mühselig zusammentrug. Und Reden wurden gehalten, zu Tagesfragen Stellung genommen, und manch ein Schwankender sicherlich auf neue Wege geführt.

Aber was galt das alles mir? Entsprach dieser Verein mit seinen paar hundert Mitgliedern jener großen Bewegung, wie ich sie erwartet hatte? Vergebens erinnerte mich Georg daran, daß wir im ersten Anfang unserer Entwickelung stünden. Mir kam es vor, als ob die mit vielem Eifer ergriffene praktische Arbeit innerhalb der Gesellschaft den großen starken Strom der Idee in hundert klägliche Wasserleitungen teile, deren jede grade nur ausreichte, ein paar dünne Süppchen zu kochen.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/606&oldid=- (Version vom 31.7.2018)