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Nur droben auf der Tribüne stand Egidy noch mit der kleinen Näherin.

„Lassen Sie mich –“ antwortete ich hastig und trat rasch auf die beiden zu. „Darf ich einmal zu Ihnen kommen?“ – ganz zaghaft nur sprach ich dem jungen Mädchen meine Bitte aus. Sie sah mich an, noch mit dem Glanz strahlender Freude auf den Zügen: „Sicherlich!“ – Und ich notierte ihre Adresse.

Nicht schnell genug konnte ich zu Hause sein und ließ mir nicht die Zeit, Hut und Mantel abzulegen, um Georg zu erzählen, was ich erlebt hatte. Er hörte mich lächelnd an. „Was ist mein Liebling für ein feuriger Redner,“ sagte er, als ich endlich schwieg.

„Ich wollte, ich wäre es! Auf alle Tribünen der Welt würde ich steigen und die steinernen Herzen warm machen und die Schlafenden aufrütteln …“ Mit einem tiefen Seufzer warf ich mich in den Stuhl.

„So versuch es doch einmal …“

Ich sprang auf: „Meinst du?!“

Schon am nächsten Morgen ging ich zu Martha Bartels. Weit draußen im Osten wohnte sie. Durch zwei schmutzige Fabrikhöfe mußte ich hindurch bis zu dem niedrigen Häuschen mit der wackligen Holztreppe, die an einem Stall vorbei hinauf in ihre Wohnung führte. Das Rattern der Nähmaschine wies mir den Weg; eine laute gleichmäßig lesende Männerstimme begleitete es. „… die Befreiung der Arbeiterklasse kann also nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein,“ hörte ich durch die Türe. Ein graubärtiger Alter öffnete mir. „Laß die Dame nur herein, Vater,“ rief Martha Bartels aus dem Zimmer, „das ist sicher die Frau

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/601&oldid=- (Version vom 31.7.2018)