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Krämern und Philistern, so war doch unsere Seele immer in ihm. Und seine Quellen heilten alle unsere Wunden …

Fieberhaft rasch klopfte damals das Herz der Zeit. Sie war, wie ein geniales Kind, das über dem Reichtum seines Innern unruhig von einem der goldenen Schätze zum anderen springt.

Der Kaiser hatte den Reichstag aufgelöst. Wieder einmal war der Monarch, der unter dem nivellierenden Rock des Europäers stets den mystisch-schimmernden Herrschermantel des Gottesgnadentums trug, mit dem Volk aufeinandergestoßen. Daß er es nicht begriff, nicht begreifen konnte, war weniger seine Schuld als die des unlösbar-tragischen Widerspruchs zwischen der uralten Tradition der Könige und der zum Bewußtsein ihrer selbst erwachten Menschheit. Väter pflegen selten zu begreifen, daß ihre Kinder Menschen werden. Für ihn blieb das Volk – „mein“ Volk!, – das Kind, das willenlose, und immer nur waren es „Hetzer“ und „Unberufene“, die sich als seine Wortführer aufspielten. Darum galt ihm das Heer, – ein durch die Macht der Disziplin in das Stadium der Kindheit zurückgedrängtes Volk –, stets als „die einzige Säule, auf der unser Reich besteht,“ und ein Volksverräter war, wer seine Entwicklung hemmte. Im festen Glauben an die ihm von Gott selbst gegebene Macht, – „suprema lex regis voluntas,“ hatte er ein Jahr vorher in das goldene Buch Münchens geschrieben –, verkündete er seinen Willen allen hörbar, und nahm die stummen Verbeugungen deren, die um ihn standen, als Zeichen für die allgemeine Ergebenheit.

Um die Militärvorlage tobte der Wahlkampf, der alte

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 592. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/594&oldid=- (Version vom 31.7.2018)