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verschwunden. Ich lächelte müde, – einen anderen Kranz hatte ich mir wohl vor langen Jahren erträumt; – fort mit allem blassen Erinnern, – draußen stand die Arbeit, stand das Leben und begehrte meiner!

Noch einmal klopfte es: ein Brief von Georg:

„Mein Liebling! Zum letztenmal sag ich Dir aus der Ferne Gute Nacht. Von morgen ab wirst Du bei mir sein und bleiben. Eine heilige Lebensaufgabe liegt vor uns, die wir zum Wohle der Menschheit erfüllen wollen, und eine, die unsere bräutliche Ehe uns persönlich auferlegt.

Nach meinem Tode kannst Du – aber ganz aufrichtig, meine tapfere Alix! – der Welt erzählen, wie ihre Lösung gelang, – anderen zur Warnung, oder zur Nachahmung. Nur ein Versprechen verlange ich heute von Dir: sollte jene Liebe Dich jemals gefangen nehmen, vor der die Menschen uns warnen, und die sich auf mich, Deinen Gatten, nicht richten kann, – so denke, ich sei Dein Vater, und schenke mir Dein Vertrauen. Ich werde mich seiner würdig erweisen, und nie soll ein Stück Papier für Dich eine Fessel werden. In keiner Lebenslage würdest Du mich verlieren.

Dein in Zeit und Ewigkeit! 
Georg.“ 

Und die Schatten der Vergangenheit zerstoben; ruhig und glücklich schlief ich dem Morgen entgegen.

Meine Kusine Mathilde war gekommen, – auch sie mit einem Gesicht, als sollte sie an einer Beerdigung und nicht an einer Hochzeit teilnehmen. Zu Fuß gingen wir vier in die Nettelbeckstraße. Wir gingen rascher – immer rascher, als wollte einer dem anderen entlaufen.

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/590&oldid=- (Version vom 31.7.2018)