„Zum – Geistlichen?!“ Ich starrte sie verständnislos an. Wir „dezidierten Nichtchristen“ sollten uns geistlich trauen lassen?!
„Georg ist Atheist –“
„Schlimm genug!“ rief die Mutter, „aber du heiratest unter dem Schutz deiner gläubigen Eltern und wirst es nach unserem Glauben tun – oder gar nicht.“
All meine Erklärungen und Bitten prallten an ihrem unbeugsamen Willen ab. Ich sah aufs neue die schwer erkämpfte Zukunft gefährdet. Aber als ich Georg mit vor Aufregung zitternder Stimme von der mütterlichen Entscheidung erzählte, zog nur ein leichter Schatten über seine Züge.
„Wenn deiner Mutter Herz an dieser Zeremonie hängt, so lassen wir ihr die Freude,“ meinte er nach kurzem Überlegen. „Dürfen wir unser Leben und seine Aufgabe von einer bloßen Formel abhängig machen?!“ Ich senkte stumm den Kopf, so recht aufrichtig hätte ich seiner Ansicht doch nicht zustimmen können.
Den nächsten Verwandten war meine bevorstehende Heirat mitgeteilt worden. Mit einer gewissen Genugtuung zeigte mir die Mutter, um deren Mundwinkel sich die Falten der Bitterkeit täglich tiefer gruben, ihre teils entsetzten, teils mitleidigen Briefe. An Tante Klotilde hatte ich selbst geschrieben; ein paar Tage vor der Hochzeit antwortete sie mir: „Was du tust, ist Wahnsinn, ja, schlimmer noch: ein widernatürliches Verbrechen. Auf welch traurigen Abwegen du dich befindest, habe ich schon durch deine potsdamer Kusinen erfahren. Daß es aber soweit mit dir kommen würde, hätte ich nimmer gedacht. Wolle Gott, daß meine
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/588&oldid=- (Version vom 31.7.2018)