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Mir traten die Tränen in die Augen, – die Erschütterung dieses neuen plötzlichen Umschwungs war zu groß für mich!

„Du hast keine Ursache, mir zu danken,“ schnitt Onkel Walter schroff jede Antwort ab, „ich tat nur meine Pflicht im Interesse der Ehre unserer Familie. Im übrigen ist es hohe Zeit, daß wir Ruhe vor dir haben.“ Damit war ich entlassen.

Ich kehrte nach Hause zurück, nachdem mein Vater abgereist war.

Mit ihrem kühlsten Gesichtsausdruck empfing mich die Mutter. „Deiner Heirat steht nichts mehr im Wege,“ sagte sie, „außer einer Kleinigkeit, die du natürlich vergessen hast: der Ausstattung. Wir sind, wie du weißt, nicht in der Lage, sie dir zu beschaffen, du wirst dich also mit der kleinen Summe aus der Kleveschen Familienstiftung begnügen müssen. Und was die Wohnung betrifft, so – –“

Ich mußte wider Willen lachen: „Das sind aber doch wirklich nichts als Kleinigkeiten, Mama!“ unterbrach ich sie. „Wir haben, was wir brauchen, – und Georgs Wohnung ist viel zu hübsch, als daß ich sie aufgeben möchte!“

„Eine Hofwohnung – und nur drei Zimmer!“ Mama kräuselte verächtlich die Lippen.

„Übergenug für uns! – du siehst: wenn das Aufgebot morgen erfolgt, können wir in vierzehn Tagen getraut werden – –“

„Selbstverständlich! – Ich werde heute noch mit Euren Papieren auf das Standesamt und womöglich auch gleich zum Geistlichen gehen.“

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/587&oldid=- (Version vom 31.7.2018)