„Ich will!“ antwortete ich fest „und wenn es sein muß, ohne den Segen der Eltern.“ Da ich wußte, daß meines Vaters Heftigkeit mich nicht würde zu Worte kommen lassen, so schrieb ich ihm einen langen, liebevollen Brief, in dem ich ihm klar zu machen versuchte, daß ich alt genug sei, um nach eigener Überzeugung mein Leben zu gestalten, daß es im höheren Sinne gewissenlos und pflichtwidrig wäre, statt der eigenen Einsicht und dem eigenen Gefühl sklavisch dem Machtgebot anderer zu gehorchen, daß es schlimmer sei als töten, wenn ein Mensch den anderen zeitlebens zur Unmündigkeit und Unfreiheit verdamme.
Einen ganzen Vormittag lang schien mein Vater meinen Brief zu ignorieren, erst als ich das Haus verlassen wollte, trat er mir im Flur entgegen.
„Du bleibst!“ rief er und umklammerte mein Handgelenk. „Die sechs Monate Frist, die ich dir gestellt habe, sind noch nicht um, – aber du zwingst mich, meine Bedingungen zu ändern. Du wirst von heute ab deine Besuche einstellen. Dieser sittenstrenge Ethiker soll mir nicht ganz und gar deine Seele vergiften.“
„Du brichst dein Versprechen, Papa –“ stieß ich hervor und riß mich gewaltsam los. In demselben Augenblick griff er nach der alten Reiterpistole auf seinem Schreibtisch –.
„Ein Schritt noch und ich schieße –.“ Aber schon lief ich die Treppe hinunter – über die Straße – über den Platz, – Menschen und Wagen und Häuser sah ich wie Schatten an mir vorüberfliegen.
Wie ich zu Georg kam, – ich weiß es nicht, – der gelle Angstschrei, den er ausstieß, als ich mitten in seinem
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/585&oldid=- (Version vom 31.7.2018)