„Alix –“, er fuhr zusammen, ein Antlitz wandte sich mir zu, überströmt von Tränen. Und er nahm meine Hände und küßte sie und zog meinen Kopf zu sich hernieder, und ich fühlte, wie sein Mund sanft meine Augen berührte.
Mit ruhiger Fassung sah ich den Ereignissen entgegen, die nun folgen mußten, – daß meine Eltern gegen meine Heirat wesentliche Einwände erheben würden, nahm ich nicht an: Georg war von gutem, alten Adel – und im übrigen konnte es von ihnen nur als Erleichterung empfunden werden, mich endlich aus dem Hause zu haben. Ich war wie versteinert vor Schreck, als Georgs offizieller Brief an meinen Vater gekommen war und ich in seinem Zimmer vor ihm stand. Schwer atmend, mit dunkel gefärbtem Gesicht, die Augen rot unterlaufen, saß er auf seinem Stuhl, den Rock geöffnet, mit den Fingern ungeduldig an seinem Kragen zerrend, als fürchte er, zu ersticken. Heiser, ruckweise, mit einer Stimme, die die seine nicht war, begann er zu reden, während die Mutter, im Sofa zusammengekauert, leise vor sich hin weinte.
„Das mir – das mir! – – hat Gott mich nicht schon genug gestraft?! – Dich – dich – auf die ich so stolz gewesen bin! – Die du mein – mein Kind warst vor allem! – Dich, um die ein König noch hätte betteln müssen! – Dich will dieser – dieser – den Gott selbst als einen Ausgestoßenen brandmarkte – –“
„Papa –!“ schrie ich und taumelte bis an die Tür zurück.
Er sprang auf, um sich im nächsten Augenblick, wie von einem Schwindel erfaßt, mit beiden Fäusten schwer
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/579&oldid=- (Version vom 31.7.2018)