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aber – wie es mir beschieden wäre – als Bruder und Schwester weiterleben?!

Der Umstand nun, daß sich jetzt ein Arbeitsplan für uns meldet, dessen Verwirklichung, nach dem Standpunkt, den Ihr Herr Vater einnimmt, zu schließen, durch jene Lebensvereinigung sehr erleichtert werden würde, ist der Grund, daß ich schon heut mit dieser Frage an Sie herantrete.

Wir würden keine Liebes-, sondern eine Freundschafts- und Arbeitsehe führen; sie würde für Sie alles andere eher als eine ‚Versorgung‘ sein; wir würden wie die Zukunftsmenschen leben, wo auch die Frau sich durch eigene Arbeit erhält. Ich bin ohne Vermögen und habe nur ein geringes Einkommen. Im übrigen wissen Sie, daß mein Leben jeden Tag zu Ende sein kann.

Und nun dürfen Sie rasch ‚nein‘ sagen. Meine Freundschaft zu Ihnen würde auch dann immer dieselbe bleiben. Das ‚ja‘ würde jedenfalls eine lange Überlegung notwendig machen. Handelt es sich doch um etwas Ähnliches, als wenn ein Mädchen den Nonnenschleier nimmt. Sollten Sie trotz alledem einmal ‚ja‘ sagen, so könnte es doch eine in ihrer Art schöne Ehe werden.

Ewig 

Ihr treuer Freund 

Georg von Glyzcinski.“ 


Ich hatte kaum zu Ende gelesen – mit klopfendem Herzen und tiefen Atemzügen –, als ich schon am Schreibtisch saß und meine Feder über das Papier flog:

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/577&oldid=- (Version vom 31.7.2018)