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sagte er dann wohl, und sein warmer Blick voll Liebe und Mitleid ruhte auf mir.

Eines Novemberabends – ich hatte infolge eines heftigen Erkältungsfiebers ein paar Tage das Bett hüten müssen – kam ein Brief vom Professor:


„Mein gnädigstes Fräulein!

Wir haben schon oft miteinander besprochen, daß die Schaffung eines Ethischen Journals sich angesichts der Entwicklung der Gesellschaft als eine immer stärkere Notwendigkeit erweist. Dieser Tage habe ich innerhalb unserer literarischen Gruppe die Frage erörtert, und der Verleger unserer Flugblätter hat sich bereit erklärt, eine Zeitschrift, wie wir sie brauchen, in Gemeinschaft mit mir ins Leben zu rufen; da ich jedoch außerstande bin, sie allein zu leiten, – der Redakteur eines solchen Blattes muß persönlich bei wichtigen Vorkommnissen zugegen sein können –, liegt die letzte Entscheidung der Sache in Ihrer Hand. Die Stellung als mein Mitredakteur wird Ihre Arbeitskraft stark in Anspruch nehmen, und im Anfang ist der Verlag leider außerstande, Ihnen ein höheres Honorar, als etwa fünfzehnhundert bis zweitausend Mark jährlich zu bieten. Aber ich hoffe und glaube, daß Ihre Liebe zur Sache groß genug ist, um über diese Schwierigkeiten hinwegzusehen.

Mit verbindlichen Empfehlungen den Exzellenzen und herzlichen Grüßen an Sie

Ihr treuergebenster 
Georg von Glyzcinski.“ 

Das ist die Befreiung! jubelte ich – und zitterte doch vor Angst, als ich den Brief meinen Eltern gab. Die

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/575&oldid=- (Version vom 31.7.2018)