regelmäßig hin, um Glyzcinski darüber zu berichten, der nur ausnahmsweise an den Sitzungen teilnehmen konnte, und daher auch oft den Grad meiner Ernüchterung nicht verstand. In Rücksicht auf ihn, dessen Freundschaft mit mir kein Geheimnis war, mehr als in Anerkennung meiner sehr geringen Verdienste um die Gesellschaft, wurde mir, statt seiner – der jede Wahl von vornherein abgelehnt hatte – der Schriftführerposten im Hauptvorstand angeboten. Ich zögerte keinen Augenblick, ihn anzunehmen, da ich mir wohl bewußt war, gerade durch ihn den größten Einfluß gewinnen zu können. Zu Hause erzählte ich nicht ohne Stolz von der mir widerfahrenen Ehre. Der Vater kam gerade aus seinem Klub, und ich hatte in meiner Freude auf seine Mienen nicht geachtet und Mamas heimliche Zeichen nicht bemerkt.
„Wie –“, fuhr er los, „ein Mensch, der meinen ehrlichen Namen trägt, offizieller Vertreter dieser Gesellschaft internationaler Schwindler?!“ Ich wollte ihn unterbrechen, aber er ließ mich nicht zu Worte kommen. „Habt ihr vielleicht nicht soeben, wie ich natürlich von Fremden erfahren mußte, für die wahnwitzige Utopie ewigen Friedens demonstriert, was nichts anderes bedeutet, als diesen Schuften, den Sozialdemokraten, Wasser auf ihre Mühle treiben!“ Seine Stimme schwoll an, als stünde er auf dem Kasernenhof, „und die Religion wollt ihr schon den Kindern durch euren sogenannten Moralunterricht austreiben. Eine nette Moral das – wahrhaftig!“ Er trat auf mich zu: „Ich verbiete dir ein- für allemal, mit diesen Gottesleugnern und Vaterlandsverrätern gemeinsame Sache zu machen – sonst –“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/573&oldid=- (Version vom 31.7.2018)