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Nietzsches!“ fügte enthusiastisch ein anderer hinzu, „sie hat die Umwertung aller Werte für sich vollzogen, sie steht jenseits von gut und böse, sie ist der Übermensch, obwohl sie ein Weib ist!“

Der Übermensch, – diese Maria, die sich von einem Elenden hatte verführen lassen?! dachte ich. Und die Umwertung aller Werte sollte sie vollzogen haben, weil sie die Heimat überwand?! Wäre es möglich, daß ich meinen Nietzsche so gar nicht verstanden hatte? – Die Unterhaltung wurde lebhafter. Man sprach über die Notwendigkeit, den Sozialismus durch den Individualismus zu überwinden, die Sklavenmoral durch die Herrenmoral.

„Wir Künstler haben inmitten der gefährlichen Nivellierungsbestrebungen unserer Zeit die Aufgabe, das Recht der Adelsmenschen zu vertreten,“ rief ein kleiner Mann mit einem Spitzbauch, während ihm die hellen Schweißtropfen über das runde Gesicht liefen.

„Und worin besteht dieses Recht?“ frug ich neugierig, das Lachen mühsam verbeißend.

Verblüfft sah er mich an. „In dem Recht, sich zu behaupten, seine Persönlichkeit auszuleben,“ sagte er schließlich und hieb sich mit der flachen Hand auf den breiten Sportgürtel, daß die dicke Goldkette klirrte, die weithin leuchtend darüber hing.

„Sofern man eine hat,“ meinte Liliencron lakonisch, der bisher fast immer geschwiegen hatte.

„Gewiß – gewiß,“ echote der erhitzte Individualist, sichtlich froh, daß der einfahrende Zug ihn einer weiteren Erörterung überhob.

Am nächsten Tag fiel mein philosophischer Unterricht

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/569&oldid=- (Version vom 31.7.2018)