uns mit der Tagespolitik und der modernen Literatur. Die Militärvorlage warf damals ihre Schatten voraus; die sozialdemokratische Presse entfaltete eine lebhafte Agitation dagegen und kritisierte auf das schärfste das Verhalten der Regierung, die, statt alte feierliche Versprechungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik einzulösen, die Lebenshaltung des Volkes nur durch neue, ungeheure Lasten herabdrücke. Ich lernte durch dürre Zahlen belegte Tatsachen über Löhne, Lebensmittelpreise, Arbeits- und Existenzbedingungen kennen, durch die die graue Nebelwelt des Elends, wie ich sie hie und da vor mir hatte aufsteigen sehen, eine immer deutlichere, fest umrissenere Gestalt annahm. Meine philosophischen Interessen traten mehr und mehr zurück: hier war ein Gebiet, das empfand ich instinktiv, das zu erschöpfen die ganze Kraft erforderte. Und die Zeit, die mich trug, kam mir auch darin entgegen: von allen Seiten strömten mir in Form von Büchern, Broschüren und Zeitungsartikeln Aufklärungen aller Art zu. Wir vertieften uns mit brennendem Eifer in den ersten Band von Marx Kapital und in die Schriften von Friedlich Engels, wir lasen Paul Göhres „Drei Monate Fabrikarbeiter,“ dessen ungewollte agitatorische Kraft uns mit sich fortriß; und als Dr. Brandt dem Professor eines Tages die Probenummer einer von ihm ins Leben gerufenen Zeitschrift zuschickte, die ausschließlich Fragen der Sozialpolitik behandeln sollte, las ich sie mit brennendem Eifer und sah von da an jeder Nummer mit einer Spannung entgegen, wie der Backfisch einer Romanfortsetzung. Auch Egidy, der inzwischen heimgekehrt war, erblickte nicht mehr in der Überwindung der Dogmen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/565&oldid=- (Version vom 31.7.2018)