nur an einem Faden; ich würde es mir nie verzeihen, wenn er einsam und ohne Pflege leiden und sterben müßte,“ schrieb ich.
Am Abend war ich bei ihm. Er saß vor dem Schreibtisch am Fenster wie immer, und schon wollt’ ich freudig überrascht auf ihn zueilen, als seine Augen mir entgegensahen: flackernde Fieberlichter brannten darin; auf seinen schmalen Wangen glühten rote Flecken, und die Hand bebte, die er mir bot. „Sie haben sich meinetwegen aus dem Bett gewagt!“ rief ich erschrocken.
„Darf ich denn dies glückliche Ereignis nicht auf meine Art feiern?!“ – sein ganzes Antlitz strahlte – „es geht mir ja besser, viel besser – und ich glaubte schon“ – seine Stimme senkte sich – „ich glaubte, ich würde Sie niemals wiedersehen!“
Minutenlang blieb es still zwischen uns. Er lehnte den Kopf zurück, mit halb geschlossenen Augen, ich sah nichts als sein Gesicht, das ein Ausdruck seligen Friedens verklärte. Und dann hatten wir einander so viel zu sagen, daß selbst die schlagende Uhr uns an die vorrückende Stunde nicht zu erinnern vermochte.
Der Diener trat ein. „Es ist zehn Uhr, Herr Professor,“ sagte er und sah mich halb verwundert, halb mißbilligend an. Erschrocken sprang ich auf: „Wie komm’ ich nun ins Haus – und wie in die Wohnung!“ Ich hatte vergessen, mich dem Mädchen anzukündigen.
„So bleiben Sie eben hier,“ entschied Glyzcinski, „nebenan auf dem Sofa hat mein Bruder oft geschlafen, – Friedrich braucht Ihnen nur die Betten aus dem Schrank zu geben.“
War das eine stille Nacht! Nur aus der Ferne drang
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 560. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/562&oldid=- (Version vom 31.7.2018)