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Und plötzlich trat hinter dem Epheugerank am Fenster ein weißes, goldhaariges Geschöpfchen lächelnd auf mich zu. Lisbeths sprudelndes Plaudern brach ab, ihr erhitztes Gesicht nahm einen Ausdruck still-seliger Verklärung an; – „mein Kind!“ sagte sie leise und legte die Hand auf das schimmernde Haar des Kleinen. Mir stiegen Tränen, brennendheiße, in die Augen: Ihr Kind! – Wie reich mußte sie sein!

Wir brachten ihn gemeinsam zu Bett, den herzigen Buben; seine rosigen Füßchen, seine runden Ärmchen, die Grübchen in den Händen und in den Knieen mußte ich bewundern. Dann trat ich still beiseite: Mutter und Kind, die einander Gute Nacht sagen, sind wie inbrünstigfromme Beter, die selbst der Ungläubigste nicht zu stören wagt. In diesem Augenblick lag es um mich wie ungeheure Einsamkeit.

Noch war ich zerstreut und bedrückt, als Sindermann kam.

Wir ertragen angesichts eines tiefen inneren Erlebens nur die Allernächsten, und seine Erscheinung wirkte völlig fremd. Ein „bel homme“ – es gibt keinen deutschen Ausdruck, der denselben Sinn hätte – mit liebevoll gepflegtem schwarzem Vollbart, erzwungen aristokratischen Allüren, großen breiten Händen und runden fleischigen Fingern daran.

Es herrschte jene spezifisch norddeutsche Stimmung reservierter Verschlossenheit, die zu der phantastischen Umgebung und dem romantischen Kostüm der Hausfrau in demselben peinlich-komischen Gegensatz stand wie die Nüchternheit aller Ostelbier zum Karnevalstrubel. Nur einem Gegner pflegt sie allmählich zu

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/558&oldid=- (Version vom 31.7.2018)