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weiß, daß ich in diesem Moment, wo die Aufregung um mich stieg, wie um Hilfe flehend zu ihm hinübersah.

„Wir sind der Überzeugung, daß das Gemeinsame der Menschen –“ fast mechanisch sprach ich jetzt und ausdruckslos – „nicht die Religion, die im Gegenteil die Welt in feindselige Lager teilt, wohl aber eine allgemeine Moral sein kann, auf Grund deren wir handeln.“ Mir wurde, angesichts der größeren Ruhe um mich her, freier ums Herz. „Das größte Glück der größten Anzahl – diese sittliche Richtschnur kann von allen anerkannt werden, ohne daß der Glaube des einzelnen verletzt zu werden braucht.“

„Dazu sind Sie ja viel zu feige!“ – wie ein gut gezielter Pfeilschuß flogen mir die Worte zu.

Ich sah auf Egidy – noch rührte er sich nicht – das Herz tat mir weh, und zugleich kam mir blitzartig die Erkenntnis, daß er im Grunde in seiner Rede dasselbe gemeint hatte. Ich zwang mich zur Ruhe und würdigte den Zwischenrufer keiner Antwort. „Herr von Egidy rühmte sich mit Recht, daß er mit offenem Visir kämpfe, – und wir und meine Freunde sind die letzten, die seinen Mut bezweifeln. Wir ehren jede Überzeugung, indem wir sie nicht antasten und über ihre Schranken hinweg den anderen die Hände reichen …“

Ein spöttisches Gelächter neben mir reizte meinen kaum unterbrunterdrückten Zorn, und alle Selbstbeherrschung verlierend, stürzten mir die Worte über die Lippen: „Sie sind feige, die Sie mich hinterrücks angreifen, – nicht ich! Viel rücksichtsloser als bei irgend einem unter Ihnen ist meine Gegnerschaft zur Kirche, zu den Dogmen, ja, zum Christentum selbst,

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/534&oldid=- (Version vom 31.7.2018)