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„Sie sollen nichts glauben, woran Sie zu glauben noch gar kein Recht haben! Das ist die Lehre der neuen Tugend, der intellektuellen Redlichkeit! – Nehmen Sie die Bücher dort mit dem dunkelblauen Rücken, – lesen Sie sie in aller Ruhe, und dann sagen Sie mir, was Sie darüber und was Sie über meinen Vorschlag denken.“

Ich erhob mich. Es wurde mir sehr schwer, diesen stillen Raum zu verlassen, der von dem hellen Geist starker Freudigkeit erfüllt schien, wie von der glänzenden Oktobersonne.

„Haben Sie Dank, vielen Dank,“ sagte ich noch und wandte mich zum Gehen. Ich stand schon an der Tür, als ich noch einmal seine Stimme hörte:

„Nicht wahr – Sie kommen bald, recht bald – – morgen schon?“ Ich nickte. Und dann verschlang mich der dunkle Flur, der finstere Hof, die kühle Straße.

„Woher kommst du?“ Mit dieser von einem mißtrauischen Blick begleiteten Frage, empfing mich zu Hause mein Vater. Sie saßen alle drei beim Abendessen. Ich hatte schon irgend eine billige Ausrede auf der Zunge – aber plötzlich wurde mir klar, daß jede verlogene Heimlichkeit mein Erlebnis beschmutzen würde.

„Von Herrn Professor von Glyzcinski …“ Mein Vater hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

„Unerhört!“ rief er „und das wagst du mir ins Gesicht zu sagen, nachdem du meine Meinung über diesen Verkehr erst gestern deutlich genug gehört hast?! – Und – Und rennst wie ein Frauenzimmer einem unverheirateten Mann in die Wohnung?! – Willst du mich denn durchaus ins Grab bringen, mit all der Schande, die

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/515&oldid=- (Version vom 31.7.2018)