Privat-Zoo sorgen können!“ Mit der ihm charakteristischen Gebärde reckte er den Oberkörper, als wollte er eine peinliche Erinnerung energisch abstoßen – „und allmählich sind mir denn doch die Menschen interessanter geworden als die Tiere. Ich studierte Philosophie, weil es das einzige ist, was ein Mann wie ich zu seinem Lebensberuf machen kann. Aber meine unglückliche Liebe zu den Naturwissenschaften ist doch gleich in meiner Doktordissertation zum Ausdruck gekommen, in der ich die philosophischen Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie behandelte. – Sie müssens mal lesen, gnädiges Fräulein, – ich habe noch heute meine Freude dran, obwohl der liebe Gott noch bedenklich zwischen den Zeilen spukt! Dann hab ich mich hier habilitiert. – Ich wohnte bei meiner guten Mutter, einer blitzgescheiten Frau – schade, daß Sie sie nicht mehr kannten! –, die mit dem lieben Gott auf besonders gespanntem Fuße stand, weil er ihren Jungen zum Krüppel hatte werden lassen. Und ein bißchen mag das auch bei mir dazu beigetragen haben, an seiner Existenz allmählich zu zweifeln. Bei näherem Nachdenken konnte ich die geistigen Kapriolen der frommen Leute nicht mitmachen, die nötig sind, wenn man das unverschuldete Elend in der Welt, wenn man Unrecht und Verbrechen mit dem allgütigen und allmächtigen Himmelsvater in Einklang bringen will. Wäre er, so müßte er entweder ein herzloses Scheusal oder das unglückseligste aller Wesen sein, das gezwungen ist, untätig zuzusehen, wie seine Geschöpfe sich zerfleischen!“ Die Stimme des Professors hatte sich gehoben, seine Augen funkelten, sein ganzer zarter Körper schien von starker Energie gespannt.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/510&oldid=- (Version vom 31.7.2018)