Männern gleich zu stellen,“ sagte ich zum Professor, „denn wie sie opferten diese Frauen Gut und Blut für die Freiheit. Aber wir?!“
„Die Verleihung politischer Rechte ist doch auch beim Mann nicht die Konsequenz heroischer Taten!“ antwortete er. „Und wenn sie überhaupt an irgend eine Bedingung geknüpft wäre, so würde mir nur eine gerecht erscheinen: das Maß des Leidens. Wer am meisten leidet, sollte die weitestgehenden Rechte haben, um die Ursachen seiner Leiden zu beseitigen. Meinen Sie nicht, daß die Frauen in diesem Fall in erster Linie stünden?!“
Ich dachte an die Arbeiterinnen Augsburgs und konnte ihm nur zustimmen. Am nächsten Tage brachte er mir ein Paket Zeitungen mit. Rote und blaue Striche an den Rändern zeugten von der sorgfältigen Lektüre. Aber als ich sie auseinanderfaltete, erschrak ich: „Die Volkstribüne, Sozialistische Wochenschrift“ stand als Titel groß darüber. Jetzt zuckte es doch wie ein ganz leiser Spott um die Lippen des Professors:
„Also auch Sie fürchten sich vor den Sozis!“ meinte er lächelnd. „Lesen Sie nur dies Blatt, – ich habe mehr daraus gelernt, als aus manch dickleibigem Buch gelehrter Kollegen!“
Und ich nahm mir die Blätter mit und las sie und war so vertieft, daß ich erst merkte, wie spät es war, als mein Vater draußen die Entreetür aufschloß. Er kam aus Brandenburg zurück, wo er an dem Jubiläumsfest seines alten Regiments teilgenommen hatte.
„Wie, du bist noch auf?“ rief er. „Da kann ich dir ja noch Egidys Grüße bestellen!“ Damit trat er ein. „Ich wußte gar nicht, daß er Fünfunddreißiger gewesen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/506&oldid=- (Version vom 31.7.2018)