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Siebzehntes Kapitel


Septembersonne! In mattem Blaugrün spannt sich der Himmel über Berlin; alles Licht ist gedämpft, und die Schatten haben einen silbernen Ton. Auf den Anlagen der großen Plätze und in den Vorgärten der Häuser, die die Kultur mühsam dem spröden Sandboden abgerungen hat, feiert sie jetzt ihre größten Triumphe: vom hellen Gelb der Linden bis zum dunkeln Rot der Blutbuchen leuchten alle Farben des Herbstes; aus dem grünen Rasenteppich glänzen Astern in sanftem Violett und müdem Blau, während sich in wehmütigem Sterben blasse Rosen an die weißen Steinstufen der Estraden schmiegen. Goldene Blätter tanzen in lind bewegter Luft, und unter den Bäumen sitzen auf weißen Bänken jene modernen Frauen der Großstadt, die starke Farben scheuen wie starke Gefühle und Kleider tragen, die aussehen, als wären sie in der Sommersonne verblichen.

Täglich, am frühen Nachmittag, gingen wir vier in den nahen Zoologischen Garten, wo sich die Bewohner des Westens am Neptunteich unter den Musikkapellen ein Stelldichein gaben. Hier traf sich der behäbige Spießbürger mit Freunden und Verwandten, im stillen beglückt, nach der vorschriftsmäßigen Sommerreise wieder

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/499&oldid=- (Version vom 31.7.2018)