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Ein Brief von Egidy, erfüllt von den Ereignissen der Gegenwart und seinen Plänen für die Zukunft, gab mich der Wirklichkeit zurück, und in unsicheren Umrissen sah auch ich ein Feld der Betätigung vor mir. „Ihre Übersiedelung nach Berlin freut mich außerordentlich,“ antwortete ich ihm, „und wenn ich Ihnen heute auch noch mit keinem Ja auf die Frage, ob ich Ihre Mitkämpferin werden kann, zu antworten vermag, so steht das Eine für mich fest: ich werde meine Kraft nicht im Durchstöbern alter Folianten verzehren und die Luft nicht durch Aufwirbeln ruhenden Staubes verdunkeln. Ich weiß, daß dem Christentum des Wortes das der Gesinnung und der Tat folgen muß, – nur zweifle ich noch, ob wir dann auf den Namen Christentum noch ein Recht haben.

Mein Entschluß, Weimar endgültig aufzugeben, hat in meiner Familie viel Entrüstung hervorgerufen. Meine Mutter sieht darin einen neuen Beweis für meine Charakterschwäche. ‚Alix ist noch niemals konsequent bei der Sache geblieben, – sie wechselt ihre Neigungen für Menschen und Dinge wie alte Handschuhe,‘ meinte sie. Ich selbst aber fange an zu glauben, daß in dieser Inkonsequenz die einzige Konsequenz meines Lebens liegt. Alles und Alle sind Stufen, und ich bin noch keine rückwärts gegangen. Papa war traurig –, was mir immer am meisten weh tut. Mein Onkel dagegen hat mir eine Rede gehalten, deren Quintessenz war, daß ich lieber heiraten solle, statt modernen Schwarmgeistern zu verfallen.

Wir reisen nächste Woche nach Haus.

Ich gehe noch einmal alle alten Wege, und oft steigen

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/497&oldid=- (Version vom 31.7.2018)