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schloß, sah ich das Zimmer erfüllt wie von einem flimmernden Nebel, aus dem die Statue Goethes immer größer und lebendiger hervorwuchs.

„Rede zu mir,Meister!“ flehte meine Seele. Und er redete.

„Dein Leben sieht einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich,“ zürnte er.

„Ach, welch ein Werk bleibt mir zu tun?!“ schrie meine Seele.

„Bleibe nicht am Boden haften – frisch gewagt und frisch hinaus,“ hörte ich die Stimme des Mahners, „dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm, – tätig zu sein, ist seine Bestimmung!“

„So zeige meiner Kraft eine Tat –“, und sehnsüchtig streckte meine Seele die gefalteten Hände empor zu ihm.

„Ein edler Held ists, der fürs Vaterland, ein edlerer, der für des Landes Wohl, der edelste, der für die Menschheit kämpft …“

Zu einem Tempel weitete sich das Zimmer, und von den Marmorwänden klangen dröhnend die Worte seines Hohenpriesters wider.

Der Boden leuchtete wie ein einziger Rubin, – tränkte ihn der Menschheit ganzes, blutrotes Leiden?

Hingestreckt lag meine Seele vor dem Altar.

„Nenne mir Ziel und Maßstab meines Strebens!“ flüsterte sie.

„… Solch ein Gewimmel möcht ich sehn – auf freiem Grund mit freiem Volke stehn …“

Nicht mehr der eine war es, der also sprach, es war ein Chor von Millionen Stimmen, und alle Hoffnung der Verlassenen, alle Sehnsucht deren, die zu leben begehren, tönte darin.


Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/496&oldid=- (Version vom 31.7.2018)