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mich richtete, verbitterte mir der Gedanke, daß nur der Glanz der Krone, in deren hellem Umkreis ich stand, mich dem Dichter als das erscheinen ließ, was er besang.

Mit mir selbst zerfallen, saß ich am Vorabend meiner Abreise im dunklen Hintergrund der kleinen Hofloge des Theaters und sah den Faust. Wie seltsam geschah mir: Acht Wochen hatte ich in Goethes Stadt gelebt, hatte täglich die Luft geatmet, die droben im Archiv sein Lebenswerk in seinen Schriften umgab, und nun plötzlich sprach er selbst, und – ich kannte ihn nicht! Als hätte ich sie niemals gelesen, niemals auswendig gewußt, trafen seine Worte mein Ohr; lauter grelle Blitze, die das Dunkel erhellten, lauter Donnerschläge, die mich erbeben ließen.

Das war des Menschen Schicksal, das an mir vorüber rollte; mein eigen kleines Leben sah ich darin verflochten mit seinen Kämpfen und Niederlagen. Und vor einer Niederlage stand ich wieder. „Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben, der täglich sie erobern muß“ dröhnte es mir in den Ohren.

Am Ausgang des Theaters traf ich Gleichen. Ich drückte ihm die Hand. „Leben Sie wohl“, sagte ich. „Sie reisen?“ Er sah mich forschend an. „Ja, – und ich werde nicht wiederkommen.“

Auf dem Frühstückstisch fand ich am nächsten Morgen zwei Briefe: vom Großherzog, der mich aufforderte, den Hof nach Wilhelmstal zu begleiten, von Tante Klotilde, die mir mitteilte, daß sie mich in diesem Sommer in Grainau nicht erwarten könne, weil sie, dem Rate meiner Mutter folgend, eine der Potsdamer Nichten zu sich gebeten habe. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als habe mir jemand hinterrücks einen Schlag ins Genick versetzt.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/493&oldid=- (Version vom 31.7.2018)