„Nein,“ sagte er energisch und drückte mir die Hand. „Nein – Sie brauchen größeren Spielraum für Ihre Freiheit.“
Ich wurde müder von Tag zu Tag. War es die tägliche stundenlange Morgenarbeit in den Archiven, war es die ununterbrochene Geselligkeit am Mittag und am Abend, die mich allmählich erschlafften? Ich wurde mir nicht klar darüber. Aber ich sehnte mich in die Stille der Berge, wo ich mit Hilfe der aufgehäuften Materialien mein Buch zu beginnen die Absicht hatte. Nur die Goethe-Tage wollte ich noch abwarten. Sie fielen in diesem Jahre mit dem Jubiläum des alten Theaters zusammen und zogen Berühmtheiten aus aller Herren Ländern nach Weimar. Auch meine Berliner Freunde fehlten nicht.
„Habe ich ihnen nicht gut geraten?“ meinte Professor Fiedler mit ehrlicher Freude, als er mich im Mittelpunkt der Gesellschaft, von Anerkennung und Schmeichelei umgeben, wiedersah.
„Welch eine Ehre für mich, mein gnädiges Fräulein,“ sagte der Mann mit dem Goethekopf, als er bei einem Diner neben mir saß.
Und ich sah mit wachsendem Mißvergnügen, wie tief all die Männer der Kunst und Wissenschaft die grauen Köpfe vor den Fürsten neigten, wie sie erwartungsvoll, stumm und aufgeregt in Reih und Glied standen und ein Ausdruck von Beglückung das Gesicht jedes Einzelnen belebte, wenn der Großherzog ein paar nichtssagende Worte an ihn richtete. Ich wurde mißtrauisch gegen jeden, der mich zuvorkommend behandelte. Selbst die Freude an den Versen, die der greise Bodenstedt an
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/492&oldid=- (Version vom 31.7.2018)