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In den Park geleitete uns unser Gastgeber nach dem Diner. Er zeigte mir das Labyrinth und die Naturbühne und wies mit liebevoller Bewunderung auf die sanften waldigen Hügelketten, die sich weit bis in die Ferne dehnten. „Das ist Schönheit,“ sagte er, „ruhigvornehme Schönheit, ein reiner Rahmen für echte Kunst, wie wir sie in Weimar gepflegt haben und pflegen werden. Ich freue mich, daß Sie uns helfen wollen. – Sie werden in Weimar bleiben, nicht wahr?“ Ich antwortete ausweichend. Er verstand mich falsch: „Eine Stellung zu finden, die Ihnen entspricht, dürfen Sie mir überlassen,“ und mit einem freundlichen Händedruck wandte er sich anderen zu. Auf dem Heimweg gratulierten mir meine Verwandten. Graf Wendland, der hinter den Allüren eines tadellosen Hofmannes einen klugen, merkwürdig freien Menschen verbarg, meinte mit einem feinen Lächeln: „Der weiße Falke wird der Hofhistoriographin nicht fehlen. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, nicht wahr?!“

An demselben Abend war ich bei einer meiner vielen Tanten zum Souper. Aber es war eine, die nicht wie die vielen war, – ein Original, über das die Familie die Achseln zuckte und die Köpfe schüttelte. Sie hatte sich schon in ihrer frühen Mädchenzeit Weimar zum Trotz ihr eigenes Leben geschaffen. Sie suchte sich ihre Hausfreunde unter den Künstlern und Dichtern, die sonst in Goethes Stadt doch nur zu wirksamen Dekorationsstücken der Hofgesellschaften verwendet wurden. So war sie allmählich zur mütterlichen Freundin all der jungen Menschen geworden, die hier auf der steilen Leiter zum Ruhm die ersten Schritte taten oder künstlerische Offenbarungen

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/489&oldid=- (Version vom 31.7.2018)