daß von einem preußischen Könige Ausdrücke wie der von der Rebellion der Junker kolportiert werden können, daß Reden gehalten werden, wie auf dem brandenburgischen Provinziallandtag, die nichts anderes sind, als ein Kriegsruf gegen uns?!“
Meine Mutter stimmte eifrig zu. „Der Geist der Unzufriedenheit, von dem der Kaiser sprach, und der die Seelen vergiftet, ist wahrhaftig anderswo zu suchen!“ “ sagte sie und lenkte die Unterhaltung auf die moderne Literatur. Seitdem sie „Die Ehre“ und „Sodoms Ende“ gesehen hatte, schien sie von dem Eindruck ganz beherrscht zu sein und schwankte zwischen der Empörung, die die traditionelle Auffassung von dem, was sich schickt, ihr auspreßte, und zwischen der Anerkennung, zu der ihr Gerechtigkeitsgefühl sie zwang. Sie wünschte sichtlich ihre Empörung zu stärken, aber unsere Gäste hielten dies Thema nicht für der Mühe wert, um sich deswegen zu erhitzen. „Wie kannst du dergleichen ernsthaft nehmen,“ meinte Onkel Walter achselzuckend; „eine neue Form amüsanter Schweinereien – nichts weiter.“ Nur Tante Jettchen ereiferte sich: „Anständige Leute gehen in solche Stücke nicht.“ Und erleichtert über die Wendung des Wendung des Gesprächs, sekundierte ihr die fromme Tante aus Potsdam.
Am Tisch der Jugend, wo man indessen Schreibspiele gespielt hatte, saß ich in steigender Erregung. Plötzlich trafen mich die scharfen Augen des Familienorakels. „Ich glaube gar, das Küken möchte mitreden, wo sie nicht einmal hinhören sollte.“ Ich wurde rot. Auf der faltigen Stirn der alten Frau erschienen hundert neue Runzeln. „Du erlaubst dir am Ende, eine andere Meinung zu haben?!“ forderte sie mich heraus. Verlegenheit
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/480&oldid=- (Version vom 31.7.2018)