nicht den mindesten Respekt vor meinen fürstlichen Beziehungen.
„Juliane Déry“ – flüsterte mir mein Tischherr zu, „ein überspanntes, hypermodernes Frauenzimmer. Sie kennen doch ihre Novellen?“
Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Aber ihre Unart gefiel mir. Nach dem Souper sprach ich sie an.
Sie saß hingekauert zu Füßen des österreichischen Dichters und maß mich mit einem feindseligen Blick, während sie ungeduldig den tief herabgesunkenen Ärmel ihres ausgeschnittenen nilgrünen Kleides auf die Schulter zurückschob.
„Ich habe kein Interesse für Goethe und nicht das mindeste für die Goethe-Philologie,“ sagte sie gereizt.
„Fräulein von Kleve sieht mir aber auch nicht aus, als ob sie mit Haut und Haaren der Philologie verfallen wäre,“ lachte der Dichter, ein wenig verlegen ob der Ungezogenheit seiner Gefährtin.
„Ich danke Ihnen für die gute Meinung,“ antwortete ich und setzte mich auf einen geraden Holzstuhl, der mit ein paar anderen seinesgleichen, einigen von Zeitschriften beladenen Tischen und schlichten Bücherregalen die Einrichtung des Raumes bildete. Es schien als sei diese Einfachheit wohlerwogene Absicht, denn um so gewaltiger und beherrschender traten die Goethe-Bilder hervor, die die Wände schmückten. „Tatsächlich habe ich gar keine Neigung zur Philologie, – sehen Sie nur, wie all der aufgehäufte papierne Wissenskram schon vor dem bloßen Abbild des lebendigen Goethe zusammenschrumpft! Es widerstrebt mir geradezu, ihn zu vermehren.“
„Warum tun Sie’s denn?!“ rief die junge Schriftstellerin,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/472&oldid=- (Version vom 31.7.2018)