ein gräßliches Spiegelbild vorgehalten werde, das sie im Grunde nichts anging, wirkte er in mir schmerzhaft nach. Ich sah in meinen Träumen Alma, das verdorbene Mädchen aus dem Hinterhaus, und Frau Adah, die arme Reiche, die nach Glück und Liebe lechzte, während ihr Mann sich mit Straßendirnen umhertrieb. Sie waren nichts als Typen der modernen Gesellschaft, und ihre Wahrhaftigkeit erschütterte mich.
Und dann las ich mit demselben Feuereifer, mit dem ich einst in Posen meine heimlich erworbenen Reklambändchen verschlang, die Werke der „Jungen“. Jedes Buch riß mir einen neuen Schleier von den Augen. Kretzers „Meister Timpe“, Holz-Schlafs „Familie Selicke“, Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“, – mit welcher Grausamkeit enthüllten sie ungeahnte Tiefen des Elends! Dazwischen fielen mir in bunter Reihe Bücher in die Hände – von Strindberg, von Garborg, von Przybyszewski –, die mit demselben brutalen Wahrheitsfanatismus blutende Herzen und zuckende Sinne bloßlegten. Und in diesem grellen Licht, das nur tiefe Schatten und blendende Helle schuf und milde, zart verschwimmende Dämmerung nicht duldete, enthüllte sich nun auch die Welt in mir. Hatte ich die zehrende Glut meines Innern, all die Qualen meiner jungen Sinne doch nur vergebens mit den Feuerlöscheimern des Verstandes und der Pflichterfüllung zu ersticken gesucht.
Das Leben hatte in tausend und abertausend bunten Farbenflecken unruhig, blendend, vor meinen Augen geflirrt; jetzt erst entdeckte ich, daß sie alle notwendig zueinander gehörten und zu einem einzigen, riesigen Gemälde zusammenschossen. Es galt nur, die Blicke fest
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/468&oldid=- (Version vom 31.7.2018)