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zu tun, als zu kokettieren. Meine Haltung ihm gegenüber ist eine ganz passive: ich empfinde mit wohligem Behagen die Atmosphäre seiner Zuneigung, und vielleicht ist solch ein sich lieben lassen für mich ein Lebensbedürfnis, ebenso wie das sich bescheinen lassen von der Sonne.

Von Herzen 
Deine Alix.“ 


Meine Mutter pflegte sich Onkel Walters Ansichten fast immer zu unterwerfen, weil es im Grunde stets die ihren waren. Aber in Bezug auf meine Theaterbesuche geriet sie in einen Zwiespalt mit ihrer eigenen Neigung und mit ihrem Pflichtgefühl. Das Theater wurde mehr und mehr ihre Leidenschaft, – es war, als suche diese kühle, harte Frau das Leben, weil sie selbst nicht gelebt hatte –, aber für sich allein und ihr persönliches Vergnügen Geld auszugeben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Also nahm sie mich mit, beruhigte ihr Gewissen damit, daß „uns doch niemand sehen wird“, und schärfte mir ein, nicht darüber zu sprechen. So sahen wir „Die Ehre“ und „Sodoms Ende“, dessen ursprüngliches Verbot auf des Kaisers direkten Eingriff zurückgeführt wurde und den Erfolg des Werks von vornherein gesichert hatte. Der tiefe Eindruck, den wir empfingen, setzte sich aus Verblüffung, Entsetzen und Ergriffenheit zusammen. Aber während er sich bei meiner Mutter durch den befreienden Gedanken auslöste, daß hier der verdorbenen Bourgeoisie und den verhaßten Parvenüs

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/467&oldid=- (Version vom 31.7.2018)