Ich bin seit langem daran gewöhnt, meine Ansichten nur im höchsten Affekt auszusprechen, so daß ich erst eine gewisse Schwerfälligkeit niederkämpfen, ja sogar mit dem Ausdruck ringen muß. Das steigert sich, wenn Namen genannt und Ereignisse lebhaft erörtert werden, von denen ich keine Ahnung habe.
Im Mittelpunkt des Interesses steht auf der einen Seite die neue literarische Bewegung, die sich in der Freien Bühne ein eigenes Theater schuf, und deren Vertreter stark realistische und sozialistische Tendenzen haben, und auf der anderen der neu aufsteigende Stern am Dichterhimmel – Sudermann –, dessen Dramen, wie Du sicher aus den Zeitungen weißt, wahre Stürme für und wider hervorrufen. Ich kenne von alledem noch nichts. Onkel Walter erklärt, daß ‚ein junges Mädchen‘ Sudermanns Werke unmöglich sehen könne, – aber ins Residenztheater und in den Wintergarten werde ich ohne Bedenken mitgenommen! –, und im Kreise meiner literarischen Bekannten steht man den Jungen von Friedrichshagen – einem Vorort von Berlin, wo sie, wie man munkelt, ein gemeinsames Leben führen, das das kommunistische Prinzip sogar auf – die Frauen ausdehnt! – skeptisch gegenüber. Ich bin zwar sehr geneigt, mich, wenn auch nicht der Autorität Onkel Walters, so doch dem reifen Urteil meiner neuen Freunde von vornherein anzuschließen, um so mehr, als Dr. Friedrich, der hervorragendste Kritiker Berlins und ein tiefer Goethe-Kenner, an ihrer Spitze steht, aber mich interessiert jede moderne Erscheinung viel zu sehr, als daß ich sie nicht aus eigner Anschauung kennen lernen wollte.
Wegen Vetter Fritz sei ganz ruhig. Ich habe besseres
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/466&oldid=- (Version vom 31.7.2018)