Dir die Harmonie unserer Beziehungen ungefähr vorstellen! Mama, mit ihrem oft ganz fanatischen Gerechtigkeitsgefühl ist die einzige, die sie aus Überzeugung verteidigt und es sogar unternahm, Tante Klotilde, die jede persönliche Zusammenkunft mit ihren Neffen und Nichten bisher vermieden hat, freundlicher zu stimmen. Sie wirft mir Herzlosigkeit vor, weil ich sie darin nicht unterstützen mag, und zankt sogar mit ihrem Lieblingsbruder, der sie warnte, sich ‚kein Kuckucksei ins Nest zu legen‘. Die Gefahr ist, scheint mir, sehr gering, denn um bei Tante Klotilde etwas zu erreichen, müßte Mama ungefähr das Gegenteil von dem verlangen, was sie erreichen will. Außerdem würde ich den armen Würmern einen tüchtigen Anteil an Tante Klotildes Reichtümern von Herzen gönnen.
In schroffem Gegensatz zu diesem Zwangsverkehr steht ein anderer, den ich mir erkämpft habe, – obwohl Du mich bereits vorher vor meinen ‚jüdischen Beziehungen‘ warntest: der im Hause Fiedlers und Rodenbergs. Papa war zuerst entrüstet, als ich ihn um die Erlaubnis bat, den freundlichen Einladungen der beiden, meine literarische Tätigkeit so lebhaft unterstützenden, folgen zu dürfen. Nach einigem Brummen, Räuspern und Toben – wobei ich verängstigt wie immer aus dem Zimmer floh, während Ilschen lachte und den Papa zu meinen Gunsten umschmeichelte – entschloß er sich freiwillig zu offiziellen Familienvisiten und gestattete mir dann, die Gesellschaften allein zu besuchen. Nun genieße ich den geistig anregenden Verkehr ungeheuer und fange an, meine Schüchternheit angesichts dieser mir doch sehr neuen Menschen und fremden Verkehrsformen zu überwinden.
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/465&oldid=- (Version vom 31.7.2018)