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waren ungestört, und er begann mir daraus vorzulesen, – eine Kritik der Kirchenlehren war es, ein Bekenntnis zu einem Christentum Christi ohne Dogmen, ohne Wunder, in einfachen lapidaren Sätzen geschrieben, durchglüht von einem kindlich-naiven Glauben an die eigene Sache, an ihren sicheren Sieg, an die Menschheit. Mir war das alles vertraut, und ich konnte mich einer leisen Enttäuschung, daß es nicht mehr war, nicht erwehren. Er schien meine Gedanken zu erraten.

„Ihnen ist das nichts Neues,“ sagte er, „das freut mich. Neu daran ist doch nur, daß es jemand ausspricht.“

„Aber das haben schon viele vor Ihnen getan,“ wandte ich ein, „Strauß, Renan, die Protestantenvereinler –“

„Ich kenne die Leute nicht,“ antwortet er brüsk, „und das beweist, das sie nichts taugten, – sonst hätten ihre Schriften wirken müssen –“

„Sie denken an eine Veröffentlichung?!“

„An was sonst? Jedes Wort wendet sich doch an die Masse! Ich muß handeln, weil kein anderer es getan hat!“ Seine blauen Augen funkelten dabei.

„Und – die Folgen?! Bangt Ihnen davor nicht?“ Mit aufrichtiger Bewunderung sah ich zu dem Mann in dem bunten Husarenrock auf, der jetzt erregt, straff aufgerichtet, vor mir hin und her ging. Er lächelte wieder sein vertrauendes Kinderlächeln.

„Ich kann mich doch nur freuen! Ein paar Unverständige werden räsonnieren, die wenigen, wirklich noch vorhandenen Altgläubigen werden Zeter-Mordio schreien, aber die Masse des Volkes – wir alle sind ‚Volk‘, wissen Sie – wird in Bewegung gesetzt werden. Und der Kaiser –“

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/452&oldid=- (Version vom 31.7.2018)