mir bei einem Manne selten begegnet war. Wir kamen in ein Gespräch, das mich, je überraschender sein Inhalt wurde, desto mehr fesselte. Dieser Husarenmajor hatte andere Gedanken hinter seiner breiten Stirn als die über Schwadronsexerzieren und Jagdreiten. Man hatte sich gerade über die jüngsten Verordnungen des Kaisers gegen den Luxus unterhalten, und bei aller Wahrung der Form war doch der Ausdruck des Unmuts ein allgemeiner.
„Mich haben die Worte Sr. Majestät geradezu beglückt,“ sagte Egidy. „Wir nennen uns Christen, und verleugnen die Lehre Christi fast täglich.“
Erstaunt sah ich auf. Noch nie hatte jemand zwischen Austern und Mocturtle-Suppe über die Lehre Christi mit mir gesprochen. War das ein schlechter Witz? Ich begegnete einem ernsten Blick, der meine Vermutung Lügen strafte.
„Wir sollen doch Christen sein, nicht heißen!“ fuhr er fort „und der Heiland saß mit den Zöllnern bei Tisch. – Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein – ich vergaß – das ist kaum ein Dinergespräch mit einer jungen Dame – aber meine Gedanken kreisen immer mehr um denselben Punkt –“
„Sie deuten meine Verwunderung falsch, Herr von Egidy,“ antwortete ich, „Sie warfen meine ganze gesellschaftliche Erfahrung über den Haufen, – und das verblüffte mich. Wir alle pflegen doch sonst unsere Gedanken, besonders wenn sie so ketzerischer Natur sind, für uns zu behalten. Ich wenigstens –“
„So haben Sie welche und verschweigen sie nur?!“ Er lächelte – sein ganzes Gesicht leuchtete auf dabei,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/450&oldid=- (Version vom 31.7.2018)