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wie meine Mutter hastig den Koffer packte, kam ich zu mir.

„Ich komme mit“, sagte ich rasch und riß ein paar Sachen aus dem Schrank und aus der Kommode. „Du?!“ Mama sah erstaunt von ihrer Arbeit auf. „Davon kann selbstverständlich keine Rede sein. Entweder wir reisen alle – und das ist zu kostspielig –, oder du mußt bei Hans und Ilse bleiben. Die Kleine kann nicht allein sein.“ Ich zitterte vor Aufregung: Plötzlich ward mir klar, daß der einzige Mensch, der mich verstand, der mich liebte – mich selbst, so wie ich wirklich war –, mit dem Tode rang; daß ich ihn verlieren sollte, ohne daß ich ihn je ganz besaß, ohne in das kostbare offene Gefäß seines großen Herzens all mein Leid, all meine Zweifel ausgegossen zu haben und Kraft und Klarheit und Verständnis von ihm zu empfangen.

„Ilse ist groß genug – und Papa sorgt für sie – besser als ich. Ich bitte dich – laß mich mit! –“ rief ich verzweifelt.

„Du weißt, daß es unmöglich ist –“ Mamas Stimme wurde scharf, „oder hast du vielleicht das Geld für die Reise?“

Tränen des Zorns, der Empörung, der Scham stürzten mir aus den Augen: Großmama starb, – und von Geld konnte gesprochen werden! –

Meine Mutter fuhr allein, aber auch sie kam zu spät: in der Nacht vor ihrer Ankunft hatte die Greisin ausgeatmet.

Jetzt erst dachte ich all dessen, was bevorstand, und der Schmerz wich mehr und mehr der Angst. Ich beobachtete

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/444&oldid=- (Version vom 31.7.2018)