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der das Reich gegründet hatte und von des Reiches drittem Kaiser aus dem Wege geräumt worden war. Von dem Tage an lebte er auf, wurde gesprächig wie früher, verfolgte mit steigendem Interesse die politischen Ereignisse, und seine oppositionelle Stellung zum „neuen Kurs“ wurde eine immer schroffere.

„Wir werden nach Berlin übersiedeln,“ sagte er mit einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloß. „Dort eröffnen sich mir alle Möglichkeiten zu literarischer und politischer Tätigkeit.“ Er begann für die konservative Presse schärfster Observanz zu schreiben, die damals der Ära Caprivi all ihren Widerstand entgegensetzte.

Die Aussicht auf Berlin elektrisierte selbst die Mutter: auf Theater, Konzerte, Ausstellungen freute sie sich wie ein Kind. Ein unterdrückter, ungestillter Hunger schien plötzlich bei ihr zum Ausbruch zu kommen. Auch ich war mit der Wahl von Berlin zufrieden; dort würde es mir leichter werden als anderswo, meine Arbeiten anzubringen, und die trübe Nebelstimmung meines von der Pflicht und dem Erwerb ausgefüllten Daseins würde doch vielleicht hier und da von einem Sonnenstrahl aus der Welt geistigen Lebens – der für mich unerreichbar fernen! – durchbrochen werden. Daß meine Freude eine so gedämpfte war, begriffen die Eltern nicht. Mein Vater bemühte sich immer wieder, der Ursache nachzuspüren.

„Du wirst mit Mama die Hofbälle besuchen – auch wenn ich nicht mittun kann,“ sagte er eines Tages mit gütigem Lächeln. „Nein, Papachen!“ antwortete ich. ihm dankbar die Wange küssend. „Ich bin lange genug

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/442&oldid=- (Version vom 31.7.2018)