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von Kleve eine Schneiderin, eine Putzmacherin – unmöglich! Aber wie viel Tischkarten hatte ich nicht schon gemalt, wie viel Stühle und Tische und Kasten und Rahmen gebrannt, – hier war vielleicht ein Weg, der sich betreten ließ. Von nun an benutzte ich jede freie Stunde, um mit dem Pinsel oder dem Brennstift Seide und Sammet, Papier, Holz und Leder zu bearbeiten.

„Komisch,“ meinte Papa eines Abends, „daß du plötzlich mit solchem Eifer Dilettantenkünste treibst. Es ist doch noch lange Zeit bis Weihnachten.“ – „An Alix’ Geistessprünge solltest du eigentlich schon gewohnt sein,“ spottete Mama. Heiß stieg mir das Blut in die Schläfen; eine heftige Antwort schwebte mir schon auf der Zunge, als ein für Harzburgs Stille ungewohnter Lärm auf der Straße uns alle ans Fenster trieb.

„Extrablatt – Extrablatt!“ Mein Schwesterchen stürmte die Treppe hinab, – endlich ein Ereignis in diesem einförmigen Leben! –, und mein Vater ihr nach, der immer irgend etwas Ungeheures erwartete und sich seit seinem Abschied mehr denn je in Prophezeiungen gefiel.

„Bismarck ist entlassen –“ atemlos rief er es uns von der Straße herauf zu und stieg mit jugendlicher Elastizität die hohen Stufen wieder hinauf. Hochrot war er im Gesicht, die Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und ein triumphierendes Leuchten war in seinen Augen. Erstaunt sah ich zu ihm auf.

„Er auch!“ sagte er wie zu sich selbst und lächelte. Nun verstand ich ihn: ein Größerer war gefallen, von demselben Schützen getroffen, – nicht mehr als der Gedemütigte stand er da, sondern als der Gefährte dessen,

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/441&oldid=- (Version vom 31.7.2018)