Seite:De Memoiren einer Sozialistin - Lehrjahre (Braun).djvu/420

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

ihr? Etwa der Glaube, daß Gott Eins und doch Drei, oder daß Christus einer Jungfrau Sohn ist? Oder der Glaube an die Speisung der Tausende, an die feurigen Zünglein des heiligen Geistes? Selbst der strengste Christ wird darin nicht den Urquell seiner Herzensreligion finden. Was ihn zu dem macht, was er ist, ihm die Kraft gibt zum Handeln und zum Ertragen, das ist nichts anderes als die Überzeugung von der Unendlichkeit des Werdens, – theologisch ausgedrückt: der Unsterblichkeitsglaube. Für ihn mag er in der Form des persönlichen Fortlebens, der Auferstehung des Fleisches, Wahrheit sein. Uns ward er zur Wahrheit im Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Wie ein Stoß fortwirkt ohne Aufhören, wirkt die Tat fort und der Gedanke ohne Ende.

Staat und Kirche lehren die Religion Christi wie vor achtzehnhundert Jahren. Was die Apostel, einfache Männer des Volks, in orientalischer Phantasie und kindlichem Glauben von ihres Herren und Meisters Geburt und Leben erzählten, soll uns noch Wahrheit sein. Was aber bleibt für uns, wenn wir hinter den Mythen die Wahrheit suchen? Die göttliche Geburt Christi? Des Menschen Geist ist göttlichen Ursprungs, und wer seiner Bestimmung folgt bis zum Tode, – der ist Gottes Sohn. Wir aber, die wir uns nennen nach dem Namen des Nazareners, der, wie wenige vor und nach ihm, der alten Lüge die neue Wahrheit entgegensetzte und sich ans Kreuz schlagen ließ von den Frommen seiner Zeit, – wir verleugnen das größte, was uns ward: den Geist. Wir stempeln seine göttliche Kraft zur Sünde und lehren im Namen des Gekreuzigten, daß wir nicht

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/420&oldid=- (Version vom 31.7.2018)