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wie alle, die es in der Welt zu Geld und Ansehen bringen: eine lebendige Lüge.

„Ein gebildeter Mensch ist das Ziel der Erziehung. Herrlich! Wenn es wahr wäre. Bilden heißt den gegebenen Stoff zur höchsten Vollkommenheit entwickeln, – nicht aus Gips Marmorsäulen, aus Holz Eisenkonstruktionen, aus Glas Diamanten machen. Aber an Stelle des Seins die Täuschung setzen, ist das Zeichen unserer Bildung. Wer über alles mitredet, stets mit einem fertigen Urteil bei der Hand ist, selten bewundert, gilt als gebildet. Urteilsfähigkeit ist Kriterium der Bildung, aber doch nur dann, wenn das Urteil ein eigenes ist. Zu dieser Bildung aber ist der Weg lang und steil, und mißtrauisch sollte stets fertiges Urteil machen.

„Der Gebildete unserer Tage scheint, was er nicht ist; er belügt andere, oft auch sich selbst; er begeht geistigen Diebstahl, indem er fremde Weisheit als eigene ausgibt; er beraubt sich der wundervollsten Lebensfreude, indem er zwar lernte, sich durch stete Verneinung hochmütig über alle zu erheben, nicht aber offnen Sinnes zu genießen, was Natur und Kunst geschaffen haben. Vergiftet ward uns der frische sprudelnde Quell der Bildung, ertötend rinnt er nun durch die Adern des Volks und trübt seinen Blick, so daß es den Vieles-Wissenden an Stelle des Selbst-Seienden zum Götzen erhebt.

„Wer wider die Lüge streiten will, muß die neue Wahrheit verkünden. Welches ist sie?

„Die Wahrheit von den Kindern zunächst:

„Das Ziel der Erziehung sei kein Lexikon, sondern ein

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/417&oldid=- (Version vom 31.7.2018)