wachsende Bäumchen. Im Leben des Kindes bedeutet das ‚Warum?‘ die Geburt des Menschen. Die Erziehung schlägt es tot, kaum daß es die Glieder regt. Das Schulzuchthaus spannt in dasselbe Joch den Begabten und den Unbegabten, den Phantasiereichen und den Nüchternen. Es stopft die Gehirne voll mit Namen, Zahlen und Regeln, und der beste Schüler ist, der rasch aufnimmt, der schlechteste, der sich grübelnd das Gehörte zu eigen machen will. Darüber stirbt das ‚Warum‘, das Gehirn trocknet ein, das Herz verschrumpft, und an Stelle selbständigen Denkens, lebendiger Begeisterung für das Gute, Wahre und Schöne treten Geschichtstabellen, Bibelsprüche, Urteile über Welt und Menschen.
„Wehe, wer dem Lehrenden widerspricht: Denken führt auf Abwege, Zweifeln schafft Ketzer und Aufrührer.
„Verschling ihn getrost, den weichen süßen Brei, den man dir mundgerecht vorsetzt, du Päppelkind, du verlernst dabei selbst den Gebrauch deiner Zähne!
„Nicht als mythendurchwebte Geschichte der Juden weiden dem Kinde uralte Urkunden der Menschheit vorgetragen, als Wahrheit vielmehr, daran zu zweifeln Sünde ist. Rauben und Morden, Verfolgen und Betrügen, – das Volk Gottes tat es auf Jehovas Befehl, unter seinem Schutz, und demselben Kinde, das diesen Gott anbeten, seine Auserwählten verehren soll, wird die Religion der Liebe gepredigt.
„Nimm auch das hin, du arme kleine Menschenmaschine: Rüttelst du nur mit einem eigenen Gedanken daran, so fällt das ganze Haus in Trümmer. Bringe deinen Verstand hübsch zum Schweigen, werde
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/416&oldid=- (Version vom 31.7.2018)