seine Arbeit nicht übel, dem Rohen täuscht sie dauernd ein Kunstwerk vor, – nur in der Nähe schau sie nicht an und hüte sie wohl vor Regen und Sturm, das Holzgerüst möchte sonst allzu schnell zum Vorschein kommen! – Hat ein Künstler oder ein Handwerker mich geschaffen? Habe ich die Nähe zu fürchten und das Wetter? Oder stürzt mich kein Sturm? Bin ich, oder scheine ich nur?“ – –
Bald ließ es mir keine Ruhe mehr, – kaum daß ich den nötigsten Schlaf mir gönnte –, ich schrieb und nannte das kleine schwarze Buch, über dessen Seiten meine Feder fiebernd flog: Wider die Lüge. Seine ersten Seiten lauteten:
„Die Lüge ist der Anfang alles Verderbens, ist das Verderben selbst. Alle Schäden, an denen unsere Zeit, an denen wir selber kranken, entspringen aus diesem Grundübel. Wir sprechen in volltönenden Phrasen von Wahrheit, und doch trennen uns von ihr tote Jahrhunderte. Denn die Wahrheit der Vergangenheit wird zur Lüge der Gegenwart. Wie ein Verbrechen verstecken wir, was in die alten Formen und Formeln nicht passen will, und sehen nicht, daß es vielmehr Verbrechen ist, diese Formen und Formeln aufrecht zu erhalten. Wir beugen uns unter Gesetze, gegen die wir uns innerlich empören, und triumphieren, wenn wir schließlich selbst das Gefühl der Empörung unterdrückt haben. Und die Diener der Kirche und des Staates lehren uns, daß wir damit den Himmel erwerben.
„Was ist Wahrheit? – Zweifelnd und verzweifelnd, schüchtern und wild flog diese Frage durch die Jahrtausende. Oft glich die Antwort einem Achselzucken,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/414&oldid=- (Version vom 31.7.2018)