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schwieg, riß die Mütze vom Kopf und schlug mit der harten rissigen Hand das Kreuz über Stirn und Brust. Erst jetzt sah ich ihn genauer. Der Kohlenstaub schien sich in die Falten unter den Augen eingebrannt zu haben, so daß sie aussahen wie die großen runden Augenhöhlen der Totenschädel. Farblos fahl waren die Züge; eine breite, gelbe Narbe, die das Gesicht in zwei Hälften teilte, entstellte sie zur Fratze. Er wandte sich zum Gehen, und die Menge drängte ihm nach. Die gerade schwarze Straße, mit den kahlen Pappeln zu jeder Seite und dem schweren Grau trübdunstigen Frühlingshimmels ringsum, verschlang sie rasch. Drohend wie ein Galgen ragten in der Ferne die Glockenstühle in die Luft, und die Sonnenstrahlen scheuten sich vor der Berührung dieser Öde …

Langsam, schweren Herzens, wandte ich mich wieder dem Schlosse zu. Die Hausbewohner waren zur Sonntagsandacht in der Halle versammelt. Auf hohem Stuhl saß der Hausherr und las aus der alten Bibel: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid …“

Und die Vertreter christlicher Ordnung schossen auf die Mühseligen und Beladenen! dachte ich bitter.

„Es läßt mir keine Ruhe,“ sagte der alte Bodenberg, nachdem der letzte Ton auf dem Harmonium verklungen war und die Dienerschaft sich entfernt hatte. „Kommen Sie, Limburg, wir gehen ein Stück Weges zur Zeche hinunter –“

Entsetzt schrie Anna auf: „Das darfst du mir nicht antun, Fritz!“ Aber begütigend legte die alte Baronin ihre feine Greisenhand auf den Arm der Erregten:

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/403&oldid=- (Version vom 31.7.2018)