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der Kindespflicht, die Sehnsucht nach Inhalt und Zweck des Daseins seine Wünsche unterstützten! Jene geheimnisvolle Gewalt des Instinkts, die mich in Münster von seiner Seite gerissen hatte, schien mich auch jetzt unter ihren Willen zwingen zu wollen. „Geh ihm aus dem Wege –“ flüsterte sie mir zu. Aber von jeher hielt ich sie für meinen bösen Engel, mit dem ich glaubte ringen zu müssen. Zu tief hatte sich mir der Mutter einziges Erziehungsprinzip eingeprägt, das Selbstbeherrschung mit Selbstentäußerung gleich setzte.

So saß ich denn am nächsten Morgen zur Abfahrt gerüstet am Frühstückstisch – „ohne Mailaune,“ wie Anna neckend bemerkte, – als der Diener die Post brachte: „Revolution im Kohlenrevier“ stand in fetten Lettern an der Spitze des Kreisblatts, und mein Vater schrieb: „In Gelsenkirchen haben sich ein paar dumme Bengels mausig zumacht, und die Kohlenfritzen flehen nun mit schlotternden Knien um militärischen Schutz. Obwohl etwas Angst und eine kleine Tracht Prügel den Protzen, die die armen Leute zum Besten ihres Geldsacks in die Gruben schicken, ganz gesund wäre, mußte ich heute schon eine Kompagnie Dreizehner nach Gelsenkirchen schicken, denen die Kürassiere morgen folgen werden. Ich finde solche Aktionen eines Soldaten unwürdig …“

„Zu dumm!“ rief Anna ärgerlich. „Nun ists mit der ganzen Stimmung vorbei. Statt lustig zu sein, werden uns die Herren mit Politik anöden!“

„Am besten wärs, wir blieben zu Hause,“ meinte ihr Mann. Davon aber wollte sie nichts wissen. Sie weinte fast vor Erregung.

Empfohlene Zitierweise:
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/394&oldid=- (Version vom 31.7.2018)